1992 AH-Wanderfahrt in MeckPomm
Alt-Herren-Wanderfahrt 1992 von Rheinsberg bis Schwerin
In der Jubiläumsfestschrift „100 Jahre RCW“ werden Ruderwanderfahrten schon aus dem Jahr 1894 erwähnt. Auch wurden von wenigen — meist über mehrere Jahre hinweg denselben — Ruderkameraden Wanderfahrten oder Ganztagesausflüge per Boot auf der Ruhr, der Weser, der Mosel oder den Stauseen des Sauerlandes durchgeführt. Regelmäßige, von einer größeren Anzahl männlicher Mitglieder gestaltete, mehrtägige Frühsommer-Wanderfahrten sind jedoch erst seit 1970 in der Chronik zu verzeichnen.
Zur 18. derartigen Wanderfahrt — zählt man die herbstlichen oder die Familienfahrten nicht mit — starteten wir am 17. Juni morgens in fünf Wohnmobilen, davon eines mit „blauem“ Bootsanhänger, mit den Doppelvierern „Städt. Gymnasium“, „ Little Jack‘, „Westfalen“, (einem Leihboot des RC Mark-Wetter) und dem Doppelzweier „Etzel‘. Zusätzlich fuhren zwei PKW.
Wie leicht zu errechnen ist, hatten wir 18 Bootsplätze für insgesamt 22 Teilnehmer, vier davon besorgten demnach den jeweiligen Landdienst.
Alle Teilnehmer waren wandererfahrene Ruderer, die meisten „von Anfang an“ dabei. Die immer wieder aufflammenden Erinnerungen an die Mosel, die Donau, den Main, die Ems (nicht zu vergessen) hörten sich an wie Veteranenerinnerungen an eine schöne Vergangenheit.
Den Chronisten dieser Zeilen stimmte es ein wenig bedenklich ob der Tatsache, dass seit Jahren schon keine jüngeren Ruderer an diesen Fahrten teilnahmen, liegt doch das Durchschnittsalter der Teilnehmer schon dicht bei 60 und hat selbst der jüngste Teilnehmer die „Vierzig“ schon deutlich überschritten.
So sind denn auch die Erwartungen an eine Wanderfahrt „gealtert“. Luma-Übernachtungen, anfangs die Regel, sind schon lange außerhalb jeder Denkmöglichkeit, sportliche Freude am Rudern —gemeint ist nicht das Kilometerschruppen — über fremde Gewässer durch Landschaften voller Naturwunder ist ergänzt worden durch den Wunsch nach gastlichen Häusern, Mittagsrasten und abendlicher Gemütlichkeit an gut gedeckten Tischen. Stadt- oder Kulturbesichtigungen gehen mehr und mehr in kurze Bummel und Gasthausbesuche über.
Die fehlenden Gasthöfe an oder in der Nähe der diesjährigen Ruderstrecke veranlasste uns zu der erwähnten Mitnahme der Wohnmobile, die alle, bis auf den mit dem Knauf für den Bootsanhänger, ausgeliehen waren. Für 21 Wohnmobilschläfer standen rechnerisch 25 Schlafplätze zur Verfügung. Von manchen Teilnehmern wurde das als unbequeme Enge empfunden.
Wohnmobile stehen nachts auf Campingplätzen. In der ersten Nacht am See nahe Rheinsberg. Hier lernten wir sogleich eines der Probleme der neuen Bundesländer kennen, die Eigentumsfrage. Die Zufahrten zu den Plätzen sind oft in schrecklichem Zustand, tiefe, oft verschlammte Schlaglöcher lassen um die Fahrzeugachsen fürchten. Die hervorragende Verwindungssteifigkeit des Bootsanhängers allein verhinderte Transportschäden an den Booten.
Der Campingplatz Nr. 96, „Warentiner Ablage“, war ein abgezäuntes Ufer- und Waldstück‘ an dessen Einfahrt ein abgetakelter Bauwagen, etwas wohnlich eingerichtet, als Quartier für die „Platzwartin“ diente. Diese war ehedem Verwalterin des dicht daneben liegenden, aus wenig gepflegten Baracken bestehenden Ferienheims eines Leipziger VEBs. Vermutlich war es schon seit Jahren üblich dass auf diesem Campingplatz naturverbundene Urlauber ihre Zelte aufschlugen. Eine Toilettenanlage war erst wenige Tage vorher in Gestalt eines fahrbaren Trockenklosetts, wie man sie oft am Rande einer Kirmes sehen kann, aufgestellt worden, nur war an dieser die Farbe schon „ein wenig“ abgeblättert. Mitten auf dem grasbewachsenen Seeuferplatz gab es eine frei aus dem Untergrund aufsteigende, etwa einen Meter hohe Wasserleitung mit einem Hahn daran und daneben ein Schild „Wasserentnahmestelle, Waschen, Zähneputzen und Geschirrwaschen im Umkreis von 10 m verboten“. So wuschen sich — fast alle — durch Baden im See. Die Existenz dieses Campingplatzes ist höchst unsicher. Das Grundstück gehörte zum Besitz des Rheinsberger Schlosses, es ist inzwischen offiziell zum Naturschutzgebiet erklärt worden.
Der zweite Campingplatz in Ludorf am Südzipfel des Müritzsees, nahe Röbel hatte eine für die neuen Bundesländer typische Geschichte. Hier hatte ein aktiver „Unternehmer“ sich im Jahr zuvor von der Gemeindeverwaltung die Nutzung eines Teils des Seeufers als Campingplatz zuweisen lassen. Zum Ärger aller anderen Einwohner des Ortes hatte dieser aber das Grundstück etwas sehr groß und großzügig bis zum Ufer eingezäunt, sodass kein Zugang mehr für diese übrig blieb. Schnell und clever wurden auf dem so verschafften Platz ein Fertighaus für den Verwalter und zwei weitere für —zugegeben sauber und sehr gut eingerichtete — Dusch-, Wasch- und Toilettenanlagen errichtet. Durch Gerichtsbeschluss veranlasst muss der Zaun fallen und das Gelände wieder geräumt werden, da der Gemeinderat überhaupt kein Recht daran hat und somit die Zuteilung gar nicht vornehmen durfte. Darf man solche privaten Aktivitäten, nicht selten von einschlägig aus der Vergangenheit bekannten Organisationstalenten (Funktionären) „Pioniergeist“ nennen?
Zur Wanderfahrt selbst: Das Wetter war traumhaft. Die Sonne meinte es gut mit uns, nur war es etwas windig. Die großen Seen sind, wir hörten es und lasen es vor Antritt der Fahrt häufiger, sehr windempfindlich.
Die Müritz ist der zweitgrößte See Deutschlands, nach dem Bodensee, etwa 27 km Ausdehnung in Nord-Süd-Richtung und 3 km an der schmalsten, 13 km an der breitesten Stelle in Ost-West-Richtung (117 qkm).
Am Nachmittag des ersten Rudertages, von der Mittagspause in Mirow kommend, näherten sich die Boote durch das wildromantische Naturschutzgebiet, an Granzow vorbei durch den Leppiner- und Woterlitzsee über den Bolter-Kanal dem Südzipfel der Müritz, dessen Ostufer. Seeadler, andere seltene Vögel, wunderschön weiß blühende Seerosen-felder konnten wir bewundern.
Der Landdienst hatte unterdessen die Wohnmobile zum oben beschriebenen Campingplatz Ludorf am Westufer, etwa 5 km gegenüber der Einmündung des Boltekanals gebracht. Auf dieser Seite des Sees war das Wasser leicht gekräuseIt, unbedenklich für Ruderboote. So begab sich der Landdienst dann frohgemut auf die andere Seite des Sees, um den Ruderern beim Umtragen um eine stillgelegte Schleuse im Boltekanal helfen zu können. Die Stimmung der Mannschaft war, angeregt durch das selten schöne Naturerlebnis, prachtvoll und zuversichtlich. Nach dem Umsetzen machte sich der Landdienst wieder auf nach Ludorf, den Empfang dort vorzubereiten. Nach zwei Drittel der Wegstrecke aber überholte ein rasender, wild hupender VW das Fahrzeug des Tross, stoppte es und heraus kletterte Horst Noll:
„Kommt sofort mit dem Bootsanhänger zurück“, rief er, „der See hat meterhohe Wellen, eine Überquerung ist unmöglich, selbst der ‚Etzel‘ konnte sich kaum 50 m vom Ufer lösen, er hat es zweimal probiert“. Vor dem Ostufer hatte sich das auf der anderen Seite nur leicht gekräuselte Wasser regelrecht aufgestaut und benahm sich wie weiland der Vierwaldstätter See in Schillers „TeIl“.
Bis wir für den Bootsanhänger einen Zugang zu einer ufernahen Stelle fanden und diesen dorthin bugsierten, die Boote selbst dorthin getragen, abgeriggert und aufgeladen hatten, endlich aus diesem sandigen und dicht bewachsenen Wald wieder heraus und schließlich in Ludorf ankamen, war es schon 20.00 Uhr vorbei. Der Wirt des nahe gelegenen Gasthofs im ehemaligen gräflichen Gutshof weigerte sich, für uns noch Überstunden zu machen.,, Ich habe schließlich auch ein Recht auf pünktlichen Feierabend.“
Beim Platzwart waren keine Duschmarken mehr zu kaufen, die wenigen zufällig schon besorgten waren rasch verbraucht und reichten nicht aus. Es gab einen schwach getrübten Abend. Der Wunsch nach einer „normalen westdeutschen Flusswanderfahrt“ war nicht mehr zu unterdrücken.
Am nächsten und übernächsten Tag war die Längsdurchruderung der Müritz bis Waren, danach die Strecke über den Köpinsee, Fliesensee und die Querung des Plauer Sees geplant. Das Wasser auch dieser Seen schmückte sich mit hübsch anzusehenden Schaumkrönchen. So besichtigten wir in Ludorf eine architektonische Einmaligkeit, eine im Stil der Backsteingotik im 13. Jahrhundert erbaute achteckige Kirche byzantinichen Grundrisses und Hauptgewölbes, bewunderten danach die mecklenburgische Landschaft vom Turm der Kirche in Röbel aus, konnten in Waren, an der Nordspitze der Müritz, einem mittelalterlichen Städtchen voller historischer, doch leider wenig gepflegter Bauwerke in der Gaststätte am Rathaus eine gute Mahlzeit zu uns nehmen, warteten daraufhin noch einmal fast zwei Stunden auf das Wiederauffinden eines verlorenen Campingwagenschlüssels und fuhren zum nächsten Campingplatz „Nossentiner Hütte“. Hier erfreute uns ein Grillabend, dessen Zutaten von RK Pitze Wilhelm dessen Zutaten von RK Pitze Wilhelm gestiftet waren, sein Geburtstag kurz vor Antritt der Fahrt und die erfolgreich angelaufene berufliche Verselbständigung waren der Anlass.
Am nächsten Morgen umfuhren wir den schaumgekrönten Plauer See und setzten dicht hinter der Stadt gleichen Namens an der Schleuse Barkow in die Elde ein.
Diese zweite Ruderetappe versetzte uns in das Gefühl, irgendwo in Südamerika oder Afrika auf Expedition in unerschlossenen Regionen zu sein. Die hochsommerlichen Temperaturen begünstigten diesen Eindruck, so wildromantisch waren die urwaldähnlichen Flussufer.
Zur Mittagsrast legten wir in Lübz an, einem wunderschönen, romantischen Ort mit spätgotischen Backsteinbauten, schönen Renaissancegiebeln und Katzenkopf- bzw. Natursteinpflaster auf den Straßen der Altstadt. Dort wurde gerade ein Stadtfest gefeiert (750 Jahre?). Zu Mittag marschierte ein Jugend-Fanfarenzug mit Landknechtstrommeln und vorweg ein richtiger Spielmannszug mit Querpfeifen und Trommeln (auch Kinder) durch die Stadt. Wir Über-Sechziger wurden an die Zeit vor 1945 erinnert. Den Anführern dieser Musik sah man die Organisation der „Jungen Pioniere“ der FDJ an. Nachmittags ruderten wir auf der Elde weiter bis zur Schleuse Neuburg, dicht vor Parchim. Überhaupt diese Schleusen! Die Müritz liegt auf einem sumpfigen Hochplateau‘ etwa 80 m über NN. Sowohl nach Süden der Havel zu als auch nach Westen über die Elde, Richtung Elbe bzw. nach Norden, über Schwerin nach Wismar fällt das Gelände ab. Die Schleusen an all diesen Abflüssen haben also die Hauptaufgabe, den Wasserstand der Müritz zu regulieren. Da es seit Ende April nicht mehr geregnet hatte, durften diese Schleusen nur drei- bis viermal je Tag betätigt werden. Das hätte stets sehr lange Wartezeiten für uns bedeutet. Ein schäkerndes Gespräch mit den Schleusenwartinnen, ein Paket Kaffee, eine Flasche Wein oder auch mal ein Kasten Bier ließ dann die Uhr in der. Schleuse spürbar schneller laufen.
Am Abend dieses Tages, den wir auf dem sehr schönen Campingplatz „Zuruf“ bei Plau mit dem gefährlich seifenglatten Kachelfußboden in der Dusche begannen, durften wir den Geburtstag unseres lieben Ruderkameraden Fritz Otto Braun feiern. In einem nahe gelegenen Gasthaus, „Strandhotel“ (in den letzten 40 Jahren als Feriendomizil für sicherlich nicht ganz kleine Beamte der DDR-Reichsbahn genutzt), war ein Zanderessen arrangiert. Der fröhlich begonnene Abend mit dem köstlichen Mahl wurde gestört, als der Wirt von unserem gastgebenden Geburtstagskind die Rechnung bezahlt haben wollte und über 50 % mehr verlangte, als vorher vereinbart war. Begründung: „Ihr Wessis wisst genau, dass Ihr bei Euch für ein solches Gericht erheblich mehr zahlen müsst, wir sehen nicht ein, dass Ihr Euch hier bei uns zu unseren niedrigen Preisen satt fressen wollt.“
Auf unseren scharfen Protest hin, schließlich ist Vertrag Vertrag, ließ er die Kellnerin den zuviel verlangten Betrag zwar wieder auszahlen, wir verließen aber sofort dieses Haus. In der Nähe fanden wir eine andere Quelle, aus der schäumender Gerstensaft sprudelte.
Der nächste Tag brachte uns mit unseren Campingmobilen nach Schwerin. Das Schloß war gut getarnt hinter einem Baugerüst, der Dom sehr eindrucksvoll und sowohl architektonisch wie geschichtlich interessant. Das Mittagessen fiel dem spürbar werdenden Drang, so schnell wie möglich die Autobahn Richtung Heimat zu erreichen, zum Opfer. Die Heimfahrt verlief aber erfreulich glatt, ohne die gefürchteten Staus, so dass alle fast gleichzeitig gegen 20.00 Uhr am Bootshaus in Witten ankamen.
War‘s eine Wanderruderfahrt, die sich harmonisch in die Erinnerungskette der früheren Fahrten einfügt? Nimmt man alles in allem, dann kann man diese Frage wohl bejahen. Sicherlich ist lmprovisationsfreudigkeit und manche organisatorische Unzulänglichkeit nicht jedermans Sache. Doch haben wir einen weiteren Teil des uns lange verschlossenen anderen Teils Deutschlands kennen gelernt, und das wiegt manche Unzulänglichkeit sicher auf. Auch in den alten Bundesländern ist nicht alles Gold, was glänzt.
Heinrich Frinken