1996 AH-Wanderfahrt auf der Ems

 

Im August zur Ems: Ein Wolf im Schafspelz?

Von Warendorf bis Rheine

Am Freitag, den 23.08.96, brechen die Ruderkameraden Werner Berg, Karl Biedermann, Thomas Blumberg, Johann Böhme, Hans Falk, Siegfried Held, Udo Kemmer, Axel Kunde, Werner Liebig, Eckard Schulz, Dieter Weihmann und Peter Wilhelm zur Ruderwanderfahrt auf der Ems von Warendorf bis Rheine auf. Im Wanderführer heißt es: „Die Ems ist ein idealer Wanderfluss, der dem Wanderruderer technisch viel Abwechslung und landschaftlich reizvolle Ausblicke bietet   Die beiden Strecken (A) von Warendorf bis Greven und (B)... sollten bei Niedrigwasser oder sehr kalter Witterung nicht berudert werden, weil sie mit Umtragen, Treideln und Hinüberheben große Anforderungen an die Mannschaft stellen.... Landschaftlich zählen beide zu den schönsten.“ Eine trainierte und erfahrene Mannschaft freut sich also besonders auf die Erkundung des letzten, uns Wittenern noch unbekannten Teil der Ems.

Das Münsterland empfängt uns mit angenehm warmen Sonnenwetter und vielen Watte-Wolken. Im verwinkelten Warendorf legen wir die Boote „Little Jack“ und „Städtisches Gymnasium“ für die Nacht ab und stoßen mit einem 90er Sylvaner auf ein gutes Gelingen der Fahrt an. Im Gasthof Biedendieck im nahen Milde sind wir gut aufgehoben und essen und trinken im Garten bis Mitternacht. Die tiefe Stille der Nacht tritt mit angenehmer Kühle durch die geöffneten Fenster, nur selten stört ein vorbeifahrendes Auto den guten Schlaf.

Pünktlich 8.00 morgens ist die Mannschaft versammelt, bis auf Axel, dem Wanderruder-Neuling, dem das abendliche Bier nicht bekam. Dunkle Wolken im Westen versprechen für den kommenden Tag nichts Gutes, allerdings anders als wir ahnen.

Das Einsetzen der Boote über eine steile Treppe geht nicht ohne Wasseraufnahme, problemlos stoßen wir ab und passieren nach 50 m die eng stehenden Pfeiler einer Fußgängerbrücke in flotter Fahrt. Die Sonne hat sich durch die Wolken geboxt. Die Ems präsentiert sich in parkähnlicher Landschaft mit Pappeln.

Der erste Steinüberlauf taucht auf. Ein Überfahren ist trotz der kräftigen Regenfälle der vorangegangenen Tage nicht zu verantworten, ein Umtragen wegen der steilen Uferböschungen nicht möglich.

Was nun folgt, trainieren wir an diesem Tag 10 mal: Vorsichtiges ansteuern an die rechte Uferseite, langsames Vorschieben, abgesichert mit dem Bootshaken. Der Steuermann steigt ins Wasser hält und sichert mit dem Bootshaken. Der Mann an der Spitze folgt und der Rest kommt nach, nachdem SkulIs und Steuer ins Boot gelegt sind.

Dem Berichterstatter obliegt es, dank eigener Beinkonstruktion, auf den Ufersteilhang auszuweichen, um die Kameraden bei ihrer Arbeit nicht zu behindern. Während er auf trockenem Hosenboden zwischen Brennnesseln flussabwärts robbt, stehen die Freunde bis zur Gürtellinie im Wasser und schieben, tragen oder treideln das Boot über die Furt. Gleich am ersten Wehr rutscht Thomas Blumberg auf dem glitschigen Untergrund aus und nimmt sein erstes Vollbad.

Dann heißt es wieder einsteigen. Das ganze ist mehr Pionierarbeit auf einer Expedition, macht aber - zunächst - durchaus Spaß. Kleiderwechsel? - Nicht vor Telgte, denn drei Wehre sind noch angesagt. Die Wassertemperatur ist erträglich, der Wind angenehm, die Sonne versucht ihr Bestes. Ein Ruderer friert nicht, auch wenn er zittert.

Telgte, ein anheimelnder Wallfahrtsort, ist nach 18 Km erreicht. Mittagpause. Als erstes Kleiderwechsel!. Im Ort wirkt die barocke Gnadenkapelle mit Silberschmuck überladen ernüchternd und kalt. Das tut der schlichten Frömmigkeit offenbar keinen Abbruch. Im aufliegenden Bittbuch liest Udo Kemmer Eintragungen wie diese: „Schenke uns Demut und unserem Schwiegersohn eine Arbeitsstelle.“

Nach dem Essen werden die Boote auf dem Zweiradkarren über Straße, Stadtpark und Fußgängerbrücke zur nächsten Einsatzstelle gebracht. Die Ems ist jetzt über weite Strecken nicht reguliert und wird wild romantisch. In engen Windungen mäandert der Fluss dahin, breite Sandbänke in den Außen-, dichter überhängender Baumbewuchs in den Innenkurven. Oft glaubt man im Kreis zu fahren. Ohne Ruderhilfe kommt der Steuermann nicht zurecht. In ständigem Wechsel tauchen wir in tiefdunkle Schatten oder blendendes Sonnenlicht. „Wie im Urwald“ meint einer der Kameraden. In dieser scheinbar unzugänglichen Wildnis stoßen wir dennoch plötzlich auf badende Kinder oder Familien, deren Juchhe sich von weitem ankündigt.

Dazwischen regulierte Flussabschnitte mit Stein- oder Spundwehrüberläufen die wir nun schon mit gewisser Routine angehen. Vier Wehre sind für diese Strecke beschrieben. Nach dem letzten atmen wir erleichtert auf, zuviel Zeit und Kraft gingen bei jedem Übergang verloren. - Plötzlich taucht 50 m vor uns das „Städtische Gymnasium“ auf, lautes Rauschen kündigt einen weiteren Überlauf an. Das Boot liegt an der rechten Uferseite. Irgendwas stimmt nicht. Ehe wir voll erfassen, was geschieht, dreht es sich plötzlich mit voller Breitseite in den Fluss und wird unter berstendem Krachen hinunter gespült.

 

Nach erstem Schreck zählen wir erleichtert 5 Köpfe, keiner scheint verletzt zu sein. Auch Werner Liebig nicht, der als einziger im Boot saß und im Strudel untertaucht, dann aber doch sicher ans Ufer kommt, wo Johann Böhme schon besorgt und hilfsbereit zur Stelle ist. Viel zu helfen gibt es nicht. Am linken Ufer versuchen Pitze Wilhelm und Sim Weihmann aus dem Restrumpf Taschen, Rollsitze und Skulls zu bergen. Die Bootsspitze liegt am rechten Ufer. Wir sind mitten in der Landschaft, eine in ca.15m Höhe von britischen Pionieren 1989 im ehemaligen militärischen Sperrgebiet errichtete Brücke ist einziger Anhaltspunkt. Die nächsten Häuser liegen weit ab. Ein Handy ist zur Stelle, funktioniert aber nicht. Wer informiert den Tross? Schließlich wird mit  „Düchting“ weiter gerudert, weit kann es bis zum vereinbarten Treffpunkt an der Wersemündung nicht mehr sein.

Unterwegs fischen wir zwei Paddelhaken und zwei Skulls auf, womit alle beweglichen Teile aus dem Boot glücklich gerettet sind. Nach zwei oder drei Km erneut ein verdächtiges Rauschen, Kanuten am Ufer: noch ein Spundwandwehr,  das im Ruderwanderführer nicht erwähnt ist. Diesmal muss das Boot ganz entladen über die Spundwand gehoben und von den unten im Wasser stehenden Kameraden in Empfang genommen werden. Kostbare Zeit ist vergangen. Das Stimmungsbarometer zeigt langsam nach unten. Endlich taucht die Wersemündung auf. Der Tross - Karl Biedermann und Eckard Schulz - sind in großer Sorge, sie hatten den letzten Bootskontakt vor vier Stunden. Jetzt droht auch ein Unwetter, doch es lässt uns ungeschoren, von ein paar Regentropfen abgesehen.

Zwischen 20.00 Und 21.00 Uhr sind endlich alle im Kolpinghaus in Greven, auch die „Wächter“ am „Städtischen Gymnasium“. Es ist Stadtkirmes und ein großes Fest im Haus. Als wir nach gutem Essen und Trinken schließlich im Bett sind, bricht eine Techno-Höllenmusik los, die erst gegen 3.00 Uhr endet. Es spricht für die stabile Reizökonomie, aber auch für die große Erschöpfung der meisten, trotzdem gut geschlafen zu haben.

Am nächsten Morgen schicken wir „Little Jack“ wieder auf die Reise, die jetzt ohne Hindernisse keine Probleme mehr bringt und alle zufrieden stellt. Nach Verladung der traurigen Reste vom „Städtischen Gymnasium“ begeben sich vier auf die Heimfahrt und wünschen den Weiterruderern Hals- und Dollenbruch.

Versucht man ein Fazit, so drängt sich fast zwangsläufig die Erinnerung an die Emsfahrt 1985 auf. Für beide Fahrten gilt, dass wohl niemand, der dabei war, auf diese Erlebnisse verzichten mag. Strapazen und Ängste sind bald vergessen. Doch einerseits: Wer Wassersport betreibt, muss das Havarie-Risiko mit einkalkulieren, wie mutatis mutandis in anderen Sportarten oder beim Autofahren auch. Andererseits aber machten die besonderen und im Wanderführer nur unzureichend beschriebenen Bedingungen an der oberen Ems die Fahrt ungewollt zu einem Testfall, der die Grenzen normalen Wanderruderns aufzeigt. Das soll keine Kritik an Thomas Blumberg sein, dem wir für seine sonst so vorzüglich organisierte Wanderfahrt herzlich danken.

Werner Berg